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Selbstvermessung – wie umgehen mit der Flut an Trackern?

350'000 Gesundheits-Apps sind auf dem Markt. Was bringen sie? Wo liegen die Gefahren? Die Soziologin und Expertin Ursula Meidert erklärt es im Interview. Sie hat an der aktuellen Studie zur «Selbstvermessung» mitgewirkt.

Warum tracken sich Menschen?

Ursula Meidert: Der «Normalo» benutzt den Schrittzähler im Smartphone oder hat ein Ziel vor Augen: Kalorienaufnahme festhalten, verbrauchte Kalorien feststellen, Gewicht verlieren, sportliche Tätigkeit dokumentieren und Verbesserungen anstreben … Dafür lädt er dann die dazu nützliche App herunter. Kurz: Das Gros der Menschen benutzt Tracker aus Spass, Neugierde, um neue Erkenntnisse zu gewinnen oder um Ziele zu erreichen – sie sind ihr elektronisches Tagebuch.

Gibt es auch Abstinenzler?

Unsere Fokusguppen und Online-Befragung* haben gezeigt, dass sich nicht alle elektronisch tracken. Nach dem Motto «Wehret den Anfängen» verzichten die «bewussten Verweigerer» komplett auf Tracker. Sie möchten nicht, dass aufgrund ihrer Daten Profile erstellt und Rückschlüsse auf sie gemacht oder ihre Daten an Dritte verkauft werden. Auch gibt es Personen, die lieber nach ihrem Gefühl leben möchten und keine Tracker verwenden.

Was geschieht am anderen Ende des Spektrums?

Dort befinden sich die Technikaffinen. Sie haben grundsätzlich Spass an Gadgets, sind neugierig, probieren gerne Neues aus. Dabei gehen sie wissenschaftlich vor – sprich: Sie wollen von den Trackern Antworten auf konkrete Fragen wie: Sinkt der Blutdruck tatsächlich, wenn ich regelmässig Sport treibe? Gibt es Tracker, die dazu Informationen liefern, testen sie das Angebot auf dessen Nützlichkeit und Exaktheit. Versagt der Tracker, liegt er schnell im Elektroschrott.

Was passiert, wenn die Ziele erreicht sind?

Der Grossteil der Personen, die einen Schrittzähler benutzten, wissen nach drei Monaten, wann sie etwa 10'000 Schritte erreicht haben. Sie brauchen dann den Tracker nicht mehr. Und welche Nahrungsmittel kalorienarm sind und welche versteckten Zucker enthalten, weiss man irgendwann auch. Wir haben herausgefunden, dass die Nutzung von Trackern generell nicht konstant, sondern volatil ist. Das heisst: Es gibt nicht «den Nerd-Tracker» oder «den Normalo» – das kann sich sehr schnell ändern. Wird ein Datenverkauf publik, kann ein Nerd zum Verweigerer werden.

Warum sind Tracker so erfolgreich?

Das liegt unter anderem an den Gamification-Elementen: Man vergleicht sich mit anderen, hält vorne mit, erhält Lob, verdient sich einen Haken oder ein Smiley, wenn man den Tagesvorsatz erreicht hat oder man gewinnt Challenges. Letztere wirken sehr motivierend auf leistungsorientierte Menschen. Es gibt aber noch eine andere, «soziale Funktion»: Mir ist der verwitwete, ältere Mann in Erinnerung geblieben, der sich gefreut hat, wenn sich sein Gerät gemeldet hat. Auf diese Weise wurde das Gadget zur «umsorgenden Person», die ihn daran erinnerte seine 10'000 Schritte zu gehen und genug zu trinken.

Was macht das Tracken mit uns?

Die Leute werden sensibilisiert für Gesundheitsthemen. Männer, an denen behördliche Gesundheitskampagnen oftmals unbeachtet vorbeigehen, sind mit technischen Geräten erreichbarer.

Heisst das: Dank Gadgets lassen wir uns gerne bevormunden?

Nein, doch auf Trackern erscheinen informative Elemente unaufdringlich als Tipp, der Mahnfinger bleibt unten. Stattdessen gibt es grafisch gut dargestellte Belohnungen, wenn man ein Ziel erreicht hat. Das motiviert einen, das Ziel noch mit einem Extraeffort zu erreichen. Man setzt sich dank Trackern täglich mit den erreichbaren Teilzielen auseinander, die zum Ziel führen. Das funktioniert. (Lesen Sie unten weiter ...)

Sich täglich selbst zu vermessen und das zu dokumentieren – wo bleibt da das Vertrauen ins Körpergefühl?

Tracker können das Körpergefühl steigern oder vermindern – das ist individuell unterschiedlich. Läufer etwa wissen nach einer gewissen Zeit dank ihrem Tracker, wie hoch ihr Puls ist. Irgendwann spüren sie die Veränderungen im Körper und wissen ohne Tracker ebenfalls genau, wie hoch ihr Puls ist. Eine Diabetikerin hingegen hat in der Befragung geantwortet, dass sie ihren Blutzuckerwert bis zu 50 Mal pro Tag anschaue und die Trendanzeige beachte. Dadurch kam ihr das Gespür für den Blutzucker abhanden.

Wo ist es sinnvoll, Tracker zu verwenden, wo nicht?

Sie sind dort sinnvoll, wo man ein Verhalten ändern will oder zum Messen von Daten, die individuell in diesem Moment angebracht sind. Sei dies der Zyklus bei Frauen, die schwanger werden wollen oder die Verwendung einer Migräne-App, die hilft, Zusammenhänge zu erkennen und Migräneanfälle zu vermeiden. Eine Studie hält fest, dass 25 Prozent der Migränepatienten weniger Kopfschmerztage erleiden, wenn sie eine Migräne-App einsetzen. Sinnvoll sind Tracker auch, um Bewegung zu fördern und so chronischen Erkrankungen wie Diabetes und Bluthochdruck vorzubeugen. Wichtig ist, dass es sich um medizinisch zertifizierte Apps handelt, sobald es um Krankheiten geht.

Warum?

Tracker sind oft ungenau. Das ist egal, solange man gesund ist und es darum geht, wie viele Schritte man zurücklegt. Ob 9'500 oder 10'500 spielt keine Rolle. Geht es hingegen um den Blutzucker-Spiegel bei Diabetikern, muss das Messresultat stimmen. Grundsätzlich gilt: Die meisten Apps sind für Gesunde, nicht für Kranke. Bei Krankheiten kommen – wenn es ums Messen geht – momentan vorwiegend noch konventionelle Geräte zum Einsatz, die medizinisch geprüft sind. (Lesen Sie unten weiter...)

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Wie misst man eigentlich Entspannung?

Es gibt Tools, die auf dem Kopf befestigt menschliche Hirnströme messen. Zum Beispiel während einer Meditation. Je nachdem kommt die Meldung, dass man noch nicht genug entspannt ist. Auch die Hautleitfähigkeit ist ein Hinweis auf Stress oder Stresshormone.

Was genau messen die Apps und Gadgets?

Der Algorithmus, der festlegt, was wie gemessen wird, ist leider bei allen Geräten ein Geschäftsgeheimnis. Deshalb kann man nicht sagen, wie und was diese «Black Boxes» genau messen.

Wo liegen die Gefahren der Selbstvermessung?

Die Selbstvermessung kann dazu beitragen, dass soziale Ungleichheiten entstehen und sich verstärken werden. Diese Gefahren sehe ich für chronisch Kranke oder Behinderte, die mit der Norm nicht mithalten können. Weiten sich die Messungen aus und werden Gesunde dadurch bevorteilt, wird das Solidaritätsprinzip – etwa in der Krankenversicherung – in Frage gestellt. Arbeitgeber werden aufgrund von Daten lieber jene mit Normdaten, sprich Gesunde einstellen. Auch Ranglisten aller Art werden digitale Verlierer generieren. Eine weitere Gefahr droht durch den Handel mit solchen Daten und das Zusammenführen verschiedener Datensätze, so dass Rückschlüsse auf Individuen möglich sind.

*Studie zur Selbstvermessung

Im Rahmen der Studie «Quantified Self – Schnittstelle zwischen Lifestyle und Medizin» befragte die ZHAW verschiedene Experten aus Gesundheitswesen, Wirtschaft, Technik, Recht und Gesellschaft. Zusätzlich rief sie Fokusgruppen mit Nutzerinnen und Nutzern und Personen aus dem Gesundheitswesen ins Leben und befragte 1400 Personen zur Selbstvermessung. Ziel der Studie war es, Chancen und Gefahren des Phänomens «Quantified Self» aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten und Handlungsempfehlungen davon abzuleiten.

Studie der ZHAW

Inwieweit macht uns der Trend zur Selbstvermessung abhängig von der Technik?

Die spielerischen Elemente, die Gamification, verschiedener Apps können tatsächlich dazu führen, dass Personen «angefixt» werden. Auch dass ein Trend graphisch ersichtlich ist, kann dazu führen, dass man immer noch besser sein will. Viele Apps und Tracker haben jedoch Normwerte hinterlegt oder man wird mit dem Durchschnitt aller Trackenden verglichen. Irgendwann wird dann deutlich, dass man aus der Balance ist und zum Beispiel zu wenig schläft. Das Potenzial zu Suchtverhalten sehe ich eher im Umgang mit Social Media, wenn sofort auf jede Push-Nachricht reagiert werden muss.

Was machen wir mit all den Informationen, die wir über uns erfahren?

Es gibt bereits über 350’000 Gesundheits-Apps. Die meisten Daten, die wir generieren können, bringen einem wenig. Man muss sich die Frage stellen: Wofür brauche ich die Information? Brauche ich sie überhaupt?

Welche Gadgets werden sich durchsetzen?

Viel Potenzial haben Smartphones und Uhren, die man locker wie ein Schmuckstück am Handgelenk tragen kann. Sie sind praktisch und stören nicht. Auch Sensoren in Kleidungsstücken dürften sich bei spezifischen Anwendungen durchsetzen.

Was tracken Sie?

Ich tracke meine Schritte und den Schlaf. Es motiviert mich persönlich, durch das Tracken etwa jeweils die Treppe zu nehmen oder am Abend nochmals einen Spaziergang zu machen.

von Silvia Schütz,

veröffentlicht am 28.09.2018, angepasst am 06.06.2019


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