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Achtsamkeit geht auch ohne Meditieren

Achtsamkeit – da klingen Buddhismus und Meditation mit. Doch zu einem Leben, das ganz in der Gegenwart verhaftet ist, führt auch ein anderer Weg. Die Sozialpsychologin und Harvard-Professorin Ellen Langer erforscht ihn seit vierzig Jahren.

Eine ältere Frau ging zum Arzt und klagte, da winde sich eine Schlange unter ihrer Schädeldecke hin und her. Der Fachmann musste nicht lange nach einer Diagnose suchen; er beschied ihr Senilität. Erst nachdem die Frau gestorben war, stellte sich heraus: Sie hatte an einem Hirntumor gelitten. Ihre Beschreibungen waren nicht Zeichen geistiger Verwirrung gewesen, sondern einfach ein Bild der furchtbaren Kopfschmerzen.

So sehr sich der Arzt einzig vom Alter der Patientin zu seiner Schlussfolgerung hatte leiten lassen, so wenig hatten auch Tochter und Enkelin der Frau seine Expertise hinterfragt. Beides war Ausdruck von Mindlessness, wird die Enkelin später in ihren Büchern schreiben, einer gedankenlosen Lebenshaltung, in der wenig hinterfragt und vieles als unabänderlich hingenommen wird, in der auf Signale reagiert statt bewusst entschieden wird.

Zwei Richtungen, ein Ziel

Die Enkelin, Ellen Langer, ist heute Harvard-Professorin und Sozialpsychologin. Seit den Siebzigerjahren erforscht sie das Konzept der Achtsamkeit. In Buddhismus und Hinduismus seit Jahrtausenden praktiziert, beschäftigt das Thema den Westen erst seit wenigen Jahrzehnten. Zu den Wegbereitern des Forschungsgebietes gehört neben Langer auch Jon Kabat-Zinn, der für sein Programm zur Stressbewältigung durch Achtsamkeit (MBSR) bekannt ist.

Gemeinsam ist beiden Richtungen die Überzeugung, dass es sich positiv auf unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit auswirkt, wenn wir bewusst in der Gegenwart, im Moment leben. Während Kabat-Zinn seine Arbeit an fernöstliche Praktiken wie Meditation und Yoga anlehnt, betrachtet Langer das Phänomen ausschliesslich aus sozialpsychologischer Sicht.

(Fortsetzung weiter unten…)

«Rasen nicht betreten»

Achtsamkeit, das bedeutet für Langer: Den Kontext nie ausser Acht lassen, denn dieser bestimmt entscheidend mit, wie wir uns verhalten und wie wir Situationen interpretieren; offen zu sein für Neues, auch und gerade bei scheinbar Bekanntem und Vertrautem; auf Veränderungen, selbst kleinste, achten; daran denken, dass sich etwas immer aus mehreren Perspektiven betrachten lässt.

Wie anders klänge es, schreibt sie etwa in der Jubliäumsausgabe ihres Buches «Mindfulness», wenn auf einem Schild statt «Rasen nicht betreten» etwas wie «Ellen sagt, der Rasen sei nicht zu betreten» stünde. Denn sind nicht alle Regeln und Normen irgendwann von Menschen bestimmt worden? Waren sie auch zu einem Zeitpunkt die bestmögliche Lösung, müssen sie doch deshalb nicht auf ewig gelten? Und wie oft wurden sportliche Rekorde schon gebrochen, und trotzdem glauben wir jedes Mal wieder, die Grenze sei nun endgültig erreicht?

(Fortsetzung weiter unten…)

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Belebendes Entscheiden

Für Langer ist dies alles mehr als Spielerei. Chronische Beschwerden, schreibt sie etwa, würden oft als unkontrollierbare Krankheiten verstanden. Doch würde nicht jeder, der einen Tag lang ganz genau hinsähe, Momente und Situationen erkennen, in denen der Schmerz erträglicher ist? Und würden wir dadurch nicht grössere Einsicht in unsere Beschwerden und mehr Kontrolle darüber gewinnen?

In einem ihrer ersten Experimente teilte die Wissenschaftlerin einst Altersheimbewohnerinnen und Altersheimbewohner in zwei Gruppen auf: Der einen überreichte sie eine Pflanze mit der Aufforderung, sich um diese zu kümmern und hielt sie an, auch andere Entscheidungen selbst zu treffen, etwa, wo sie ihren Besuch empfangen und ob und wann sie einen bestimmten Film schauen wollten. Der anderen Gruppe gab sie ebenfalls eine Pflanze, jedoch mit dem Hinweis, dass sich das Pflegepersonal darum kümmern werde und man sich auch bei Entscheidungen anderer Art jederzeit an dieses wenden könne.

Nicht nur zeigten sich erstere Probanden bald aktiver und zufriedener als letztere – als Langer die beiden Gruppen nach eineinhalb Jahren nochmals besuchte, waren in der ersten Gruppe deutlich mehr Menschen überhaupt noch am Leben als in der zweiten. Wenn wir Tag für Tag gedankenlos dasselbe tun, ist Langer überzeugt, dann vergessen wir irgendwann all die anderen Möglichkeiten, die uns ebenfalls offenstünden – all die kleinen und grossen Gelegenheiten des Alltags, unser Leben selbst in die Hand zu nehmen und es bewusst so zu leben, wie wir es uns wünschen.

von Ümit Yoker,

veröffentlicht am 15.03.2018, angepasst am 27.12.2023


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