Stress, Druck, hohes Tempo: Vielen Menschen mangelt es chronisch an Zeit. Wie lässt sich bewusster mit diesem kostbaren Gut umgehen? Ein paar Anregungen.
Obwohl den meisten von uns im Vergleich zu unseren Vorfahren heute so viel Freizeit zur Verfügung steht wie nie zuvor, haben wir paradoxerweise das Gefühl, zu wenig Zeit zu haben. Das Virus «Beschleunigung» ist jedoch nur ein kleiner Teil der Erklärung. Entscheidender ist die Art, wie wir mit Zeit umgehen und wie wir über sie denken.
Besonders beglückend sind jene Momente, in denen die Zeit zu verfliegen scheint, weil wir ganz in der Gegenwart aufgehen: beim Flirten oder beim Küssen, während eines anregenden Gesprächs oder eines Flow-Erlebnisses bei einer spannenden Arbeit.
Umgekehrt registrieren wir während eines langweiligen Vortrags selbst die kleinste Veränderung – es gibt ja sonst nichts zu tun. So entsteht der quälende Eindruck einer nicht enden wollenden Spanne.
Müssen wir uns also damit abfinden, dass ausgerechnet die schönsten Stunden die kürzesten sind? Keineswegs. Denn gerade weil es, anders als beim Hören oder beim Sehen, keinen eigenen Sinn für Zeit gibt, haben wir die Möglichkeit, unsere Wahrnehmung gezielt zu beeinflussen.
Auf das Verkürzen von Zeit verstehen wir uns bereits bestens: Schnell mal die Mails checken, weil das Tram noch nicht da ist. Selbst beim Treffen mit Freunden ist der Blick aufs Display längst gesellschaftsfähig. Tatsächlich gibt es keine effektiveren Mittel zum Vernichten von Lebenszeit als elektronische Medien.
Mit dem Dehnen von Zeit hingegen haben wir kaum Erfahrung. Wir glauben nicht einmal, dass wir es überhaupt zuwege bringen können. Ein Irrtum, der sich mit Übung beheben lässt. Aufmerksamkeit heisst dabei das Zauberwort: Sie wollen einen schönen Abend in die Länge ziehen? Dann füttern Sie die Uhr in Ihrem Innern mit möglichst vielen Eindrücken und Details. Beobachten Sie zum Beispiel, wie der Tag zur Nacht wird. Bewusste Wahrnehmung verlängert die Zeit. (Lesen Sie unten weiter...)
Aus demselben Grund ist uns vieles aus Kindheit und Jugend noch bis ins hohe Alter präsent, während die Erwachsenenjahre im Nebel der Vergangenheit verschwimmen und wir stets aufs Neue davon überrascht werden, dass schon wieder ein Jahr vorbeigezogen ist. Völlig abstellen lässt sich dieser Effekt nicht.
Mit Anfang vierzig ist uns das Leben nun einmal vertrauter als mit zehn. Vieles ist Routine und gibt wenig Anlass zum Staunen. Da kann es leicht passieren, dass man wie per Autopilot durch die Tage schwebt und die Wochen und Jahre immer schneller dahinzurasen scheinen.
Mit Achtsamkeit und Abwechslung lässt sich das Tempo jedoch drosseln. Sich immer wieder Unbekanntem auszusetzen, Neues zu lernen und Gewohnheiten zu durchbrechen, lässt uns Zeit intensiver und dichter erfahren. Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage hinzuzufügen, sondern den Tagen mehr Leben.