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«Die Pandemie führt uns vor Augen, dass nichts sicher ist»

Zwei Jahre Corona und kein Ende in Sicht. Ein Grossteil der Bevölkerung hat sich recht gut mit der Situation arrangiert. Doch gewisse Gruppen reagieren zunehmend mit psychischen Problemen, wie eine Psychotherapeutin erzählt.

Eine Maske tragen im Zug und im Restaurant das Zertifikat vorweisen – für die meisten Menschen bedeutet die Pandemie doch gar keine grosse Einschränkung. Wieso sind alle am Jammern?

Jutta Stahl: Nach zwei Jahren ist generell eine grosse Müdigkeit festzustellen. Niemand hat damit gerechnet, dass das so lange dauert. Die Pandemie führt uns vor Augen, dass nichts sicher ist, dass wir auch in unserem politisch stabilen Land und trotz moderner Technologie nicht alles unter Kontrolle haben.

Führt diese Verunsicherung vermehrt zu psychischen Problemen?

Der Grossteil der Bevölkerung kommt relativ gut mit der Situation zurecht und zeigt sich sehr solidarisch. Manche fühlen sich etwas gestresst, ängstlich oder belastet, doch das sind normale Reaktionen. Gewisse Gruppen leiden jedoch verstärkt unter psychischen Problemen.

An welche denken Sie?

Natürlich zuerst einmal an die Menschen, die selber schwer an Corona erkrankt sind sowie deren Angehörige. Weiter sind da die Jugendlichen, älteren Menschen und Angehörigen von Risikogruppen, die jetzt vermehrt unter Einsamkeit leiden. Auch psychisch vorbelastete Personen haben es schwer. Und besonders betroffen ist das Gesundheitspersonal. Mit letzteren beiden Gruppen habe ich es als Therapeutin häufig zu tun.

Was erfahren Sie über deren Situation in Ihrer Rolle als Beraterin für Mitarbeitende von Spitälern?

Die Gespräche mit diesen direkt betroffenen Menschen berühren mich sehr. Kürzlich habe ich eine sehr engagierte Pflegefachfrau begleitet, die auf einer Intensivstation arbeitet. Sie hat mir erzählt, wie ihr die Corona-Patientinnen und -Patienten unter den Händen wegsterben und wie sehr ihr das zusetzt. Gleichzeitig belastet es sie sehr, dass diverse ihrer Bekannten vehement gegen das Impfen sind. Angesichts dessen, was sie täglich im Spital erlebt, findet sie es sehr schwierig, mit diesen Menschen weiterhin eine freundschaftliche Beziehung zu pflegen.

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So geht es auch vielen anderen Menschen.

Ja, besonders Angehörige von Risikogruppen sind in einem Clinch: Wenn sich ihre Bekannten und Familienangehörigen nicht impfen lassen oder keine Maske tragen, befürchten sie eine Ansteckung. Distanzieren sie sich, gelten sie schnell als überängstlich und unsozial.

Und wie trifft die Pandemie Menschen, die bereits vorher mit psychischen Erkrankungen zu kämpfen hatten?

Schwierig ist es beispielsweise für Menschen mit Depressionen und Angststörungen. Während des Lockdowns und der Homeoffice-Zeit fühlten sich einige zwar zuerst einmal entlastet, weil sie nun einen guten Grund hatten, nicht mehr unter die Leute zu gehen und ihrem krankheitsbedingten Bedürfnis nach Rückzug nachzugeben. Doch langfristig wirkt sich die Einschränkung der sozialen Kontakte fatal auf diese labilen Menschen aus. Es verstärkt ihre Symptome wie etwa mangelhaftes Selbstwertgefühl, Antriebslosigkeit sowie Ängste vor der Welt «da draussen». Eine Ausnahme bilden Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen: Sie profitieren von der Möglichkeit, online zu arbeiten oder zu studieren. Einige kommen sogar mit weniger angstlösenden Medikamenten aus.

So schauen Sie zu Ihrer Psyche

Eben erst hatten viele von uns allmählich wieder zurück ins Büro gefunden. Und nun steht erneut Homeoffice an und Veranstaltungen werden wieder reihenweise abgesagt. In dieser Pandemie wird uns viel Geduld abverlangt. Diese Strategien helfen Ihnen, nochmals eine Runde durchzuhalten:

  • Sehen Sie das halbvolle Glas statt das halbleere. Freuen Sie sich an allen Aktivitäten, die trotz Pandemie möglich sind oder für die sie nun sogar mehr Zeit haben.
  • Pflegen Sie Ihre Beziehungen: Statt in grossen Cliquen unterwegs zu sein, empfiehlt es sich zurzeit, Freunde einzeln oder in kleinen Gruppen zu treffen – wenn nötig mit Maske oder auf einem Spaziergang. Noch viel mehr als sonst gilt jetzt: Qualität vor Quantität. Wer in Isolation oder Quarantäne ist, greift zu Telefon oder Videocalls.
  • Sprechen Sie über Ihr Befinden. Es tut gut, Gefühle, Ängste oder Freude mit anderen zu teilen.
  • Halten Sie sich körperlich fit: Viele Menschen haben in der Pandemie Pfunde zugelegt. Sport treiben ist aber mit den gebotenen Hygieneregeln durchaus möglich und fördert auch das psychische Wohlbefinden. Wenn Bewegung in Innenräumen nicht möglich ist, bieten sich Joggen, Velofahren, Wandern oder Skifahren an. Kochen Sie selber etwas Gesundes.
  • Im Homeoffice: Strukturieren Sie Ihren Arbeitstag gut. Arbeiten Sie zu festen Zeiten, machen Sie regelmässig Pause und gehen Sie jeden Tag mindestens eine halbe Stunde nach draussen. Rufen Sie Arbeitskollegen auch mal an, um etwas zu besprechen, statt nur zu chatten. Manchmal ergibt sich dabei ein persönliches Gespräch oder etwas Smalltalk wie zuvor beim spontanen Zusammentreffen bei der Kaffeemaschine.
  • Tipps für die psychische Gesundheit trotz Corona finden Sie hier: https://dureschnufe.ch/
  • Wenn Sie merken, dass Sie mit der Situation nicht zurechtkommen und es Ihnen psychisch über längere Zeit nicht gut geht, nehmen Sie professionelle Hilfe in Anspruch. Suchen Sie sich einen Psychologen oder lassen Sie sich von der Hausärztin überweisen.

Kontakte zu pflegen war doch bei uns immer möglich. Sogar in den schlimmsten Phasen der Pandemie konnte man zusammen draussen spazieren gehen.

Das mag für psychisch gesunde Menschen mit einem stabilen Beziehungsumfeld stimmen. Viele von uns haben verblüffend gute Strategien entwickelt, um das Beste aus der Situation zu machen. Der Wegfall des Pendelns wegen Homeoffice und die Gemütlichkeit der eigenen vier Wände haben vielen sogar gut getan. Sie hatten weniger Stress und mehr Zeit für die Familie.

Wer allein wohnt, hat es natürlich schwieriger.

Ja, diese Menschen fühlen sich noch stärker isoliert als vorher. Für einige sind die Begegnungen an der Arbeit die einzigen sozialen Kontakte. Als diese wegfielen und auch organisierte Freizeitaktivitäten nicht stattfanden, fehlte ihnen eine regelmässige Tages- und Wochenstruktur. Ein solcher Rhythmus vermittelt eine gewisse Orientierung und ein Gefühl von Sicherheit, was für psychisch labile Menschen besonders wichtig ist. Einige haben aber auch bei den Massnahmen-Gegnern Halt gefunden.

Wie erklären Sie sich das?

Die Einschränkungen werden als Aufhänger benutzt, um eine grundsätzliche Unzufriedenheit auszudrücken. Oft steckt dahinter das Gefühl, zu wenig ernst- oder wahrgenommen zu werden. Nun hat man endlich einen handfesten Grund, sich aufzuregen und man kann andere für seine Frustration verantwortlich machen. Einige leben dabei sogar richtiggehend auf: Sie haben Gleichgesinnte gefunden und fühlen sich moralisch überlegen.

Wie gehen Sie mit solchen Haltungen um?

Einige Patientinnen und Patienten erreiche ich leider nicht mehr. Doch auch in der Öffentlichkeit begegnen mir natürlich Menschen, welche die Corona-Massnahmen teilweise nicht mittragen. Auch wenn es mir nicht immer leichtfällt: Ich versuche, die Ängste dahinter zu sehen und Verständnis zu haben. Solche Menschen abzulehnen, vertieft die Gräben zwischen den verschiedenen Lagern zusätzlich. Die zunehmende Spaltung der Gesellschaft macht mir grosse Sorgen, denn eine Verhärtung der Fronten macht alles nur noch schlimmer. In einer Zeit wie dieser braucht es Solidarität, keine feindseligen Grabenkämpfe.

von Andrea Söldi,

veröffentlicht am 09.01.2022


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